Geschichte zum Advent 2020
Jeans außergewöhnliche Weihnacht
Als Jean erwachte, war es noch dunkel. Blinzelnd öffnete er die Augen, aber alles, was er sah, war ein blasser Streifen Mondlicht, der durch den Spalt zwischen den Fensterläden in seine Schlafkammer drang.
Er schniefte leise. An seiner Nase hing ein Tropfen, er spürte es, doch er hütete sich, die Hand auszustrecken und ihn abzuwischen. Lieber alles unter der Bettdecke halten, so lange es ging, das wärmte wenigstens ein bisschen.
Mit einem wohligen Seufzer zog er sich die Decke über die Nase.
Im Bett war es doch viel gemütlicher. Außerdem hatte er am Abend ein wenig Wein trinken dürfen. Es war ein besonderer Anlass gewesen. Zum ersten Mal begingen sie jenen Abend im neuen Heim seines Herrn, den Abend vor …
Da stockte ihm der Atem, als ihm bewusst wurde, welcher Tag heute war.
Mit einem Schlag war er hellwach.
Von einem Augenblick zum anderen saß er aufrecht im Bett und tastete wild auf dem Nachttisch herum. Die kalte Luft scherte ihn auf einmal gar nicht mehr. Himmel noch eins, wie hatte er es aber auch vergessen können, ausgerechnet hier, ausgerechnet heute!
Endlich fand seine Hand, was er suchte, die Uhr, die ihm sein Herr vor einigen Wochen geschenkt hatte. Es war eine besondere Uhr, die in ihrem Innern ein Schlagwerk nebst einer kleinen Glocke verbarg. Mit einem Hebel konnte man einstellen, wann die Glocke schlagen sollte. So konnte man sich von dem Apparat wecken lassen – eine feine Sache, wenn man morgens als erster auf den Beinen sein musste.
Jean hob die Uhr vor die Augen, doch es war zu dunkel, um das Zifferblatt und die Zeiger zu erkennen. Seufzend schälte er sich aus den Decken, tappte zum Fenster und hielt die Uhr in den schmalen Streifen Mondlicht.
Fast halb drei. Noch mitten in der Nacht, oder besser, ganz früh am Morgen.
Er lächelte im Dunkeln.
Ein besonderer Morgen, noch vor Anbruch eines ganz besonderen Tages.
Vorsichtig stellte er die Uhr zurück.
Dies war der Weihnachtsmorgen, der Morgen nach der Heiligen Nacht. Heute war der Tag, an dem die gesamte Christenheit sich aufmachte, die Geburt des Erlösers zu feiern.
Jean fühlte, wie ihm leicht ums Herz wurde.
So viel Leid hatten sie durchlitten, sein Herr und er, so viel Krieg, so viel Tod. Aber all das lag nun hinter ihnen. Nun waren sie hier, im Herrenhaus von Manoir le Dragon, dem neuen Wohnsitz seines Herrn.
Es drängte ihn, wieder unter die warmen Decken zu kriechen. Doch er war neugierig geworden.
Was hatte dieser Morgen an sich, dass er vor der Zeit erwachte?
Jean öffnete zuerst das Fenster und danach die Läden. Draußen stand der fast volle Mond am Himmel. Das würde ihm genügend Licht geben für die nächsten Handgriffe.
Schnell schloss er das Fenster und tappte auf Strümpfen zum Ofen hinüber.
Wie erwartet war noch Glut darin. Geschickt entfachte er mithilfe von Kienspänen und Blasebalg eine kleine Flamme. Bald brannte ein munteres kleines Feuer. Jean ließ die Ofenklappe offen, um sich im Licht des Feuerscheins anzukleiden.
Während er sich die Strumpfbänder band, kehrte er in Gedanken zu der Frage zurück, was ihn aus dem Schlaf gerissen hatte. Er lauschte angestrengt, doch es war totenstill im Haus und auch von draußen drang kein Laut herein.
Jean griff nach seiner Hose.
Was zum Henker hatte ihn geweckt?
Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis er alle Knöpfe an seiner Hose geschlossen hatte, im Halbdunkel und mit klammen Fingern. Aber was half es? Nicht nur, dass er sich kein liederliches Erscheinungsbild erlauben konnte – wer wusste schon, was der noch junge Tag bereithielt?
Womöglich ein neues Abenteuer für ihn und seinen Herrn?
Er zog sich die Weste über.
Ein neues Abenteuer – weshalb eigentlich nicht?
Früher waren sie geradezu von einem Abenteuer ins nächste geschliddert. Früher, als sein Herr noch bei den Dragonern war und Jean sein Offiziersbursche. Wohl ein Dutzend Mal waren sie dem Tod nur knapp entronnen, hatten einander das Leben gerettet, zu Land, zu Wasser und sogar in der Luft.
Mit Schaudern dachte er an ihr jüngstes Abenteuer.
Für seinen Herrn wäre es beinahe das letzte gewesen. Schwer verletzt hatte Jean ihn zurückgelassen, war allein in die Nacht hinausgeritten, um ein anderes Leben zu retten. Nur Maître Renard war bei ihm gewesen, der fuchsrote Hengst seines Herrn, ein Pferd mit so viel Feuer, dass es für zehn gereicht hätte.
Maître Renard …
Sein Blick ging zum Fenster.
Am schwarzblauen Winterhimmel standen die Sterne, dazwischen der fast volle Mond, der allmählich dem Horizont zustrebte. Sehr groß war er. Kein Wunder, dass Jean in seinem Licht die meisten Einzelheiten in seiner Schlafkammer erkennen konnte: das Bett mit dem Kruzifix darüber, die Kommode, die früher in der Stube seines Herrn in der Rue du Vicomte gestanden hatte und nun Jeans Sachen beherbergte, den Haken an der Wand, an dem auf einem Kleiderbügel der passende Rock zu Jeans graublauem Anzug hing.
Rasch trat er hinzu, nahm das gute Stück herunter und schlüpfte hinein.
Anfangs war es ein ungewohntes Gefühl gewesen. Während seiner Zeit als Offiziersbursche hatte Jean nur eine Ärmelweste getragen, die vorne geschlossen wurde und eng am Körper saß. Ein langer Rock mit weiten Schößen, die ihm fast bis auf die Knie reichten – das das wäre für seine Arbeit als Bursche nur hinderlich gewesen. Wie hätte er damit den Stall ausmisten sollen, die Pferde striegeln, das Zimmer seines Herrn putzen, den Kamin säubern, das Feuer in Gang halten und all die anderen täglichen Pflichten?
Damit war es nun vorbei. Keinen Stall brauchte er mehr auszumisten, kein Sattelzeug zu putzen und keinen Fußboden zu schrubben. Das taten nun andere, und er, Jean, brauchte nur noch darauf zu achten, dass alles seine Ordnung hatte.
Er zupfte sich die Ärmel zurecht und strich die Fronten des Rocks glatt.
Also dann!
Er ging zur Tür und fasste nach der Klinke.
Nur Sekunden später stand er draußen auf dem Gang.
Sofort schalt er sich einen Esel. Weshalb hatte er nicht daran gedacht, ein Licht mitzunehmen? Auf dem Flur war es so dunkel wie in einem Grab. Oder wie im Bauch eines Walfisches. Er dachte daran, wie er einmal mit seinem Herrn über die Geschichte von Jonah gesprochen hatte.
Oder nein, nicht Jonah. Sein Herr hatte den Heiligen Tobias zitiert. Von einem großen Fisch aber war trotzdem die Rede gewesen, ein Fisch, der Tobias verschlingen wollte, so wie die Dunkelheit hier auf dem Gang Jean zu verschlucken drohte.
Er wandte den Blick zum Fenster am Ende des Ganges – und erstarrte.
Das Fenster war recht klein, nicht größer als das in seiner Schlafkammer. Im Gegensatz zu jenem aber hatte dieses hier keine Fensterläden, und der Blick ging ungehindert auf den dunklen Nachthimmel hinaus.
Davor stand eine schwarze Gestalt, nicht mehr als eine Silhouette im silbernen Mondlicht.
Jean fühlte, wie ihm ein Schauer über den Rücken fuhr.
Geschichten von Gespenstern fielen ihm ein, von Geistern, die die Lebenden nachts heimsuchten. Fieberhaft überlegte er. Die Köchin hatte ihm eine Menge über das Haus erzählt und über die Menschen, die hier gelebt hatten.
Ob wohl einer von ihnen geblieben war, bis über den Tod hinaus?
Er schluckte.
Mit schreckgeweiteten Augen starrte er auf die Silhouette am Fenster.
Da schoss ihm plötzlich ein Gedanke durch den Kopf.
»Gespenster gibt es nicht«, hatte sein Herr einmal gesagt. Für alles gab es eine logische Erklärung. Wenn also die Gestalt dort vorn am Fenster kein Geist war, musste sie ein Mensch aus Fleisch und Blut sein. Und da die Bewohner des Hauses um diese Zeit friedlich zu schlafen pflegten, bedeutete es, dass er es mit einem Eindringling zu tun hatte.
Er spürte, wie sein Nacken zu kribbeln begann.
Im selben Moment wurde ihm bewusst, dass er mit dem Fremden allein auf dem dunklen Flur war, allein, ohne Licht – und ohne Waffe.
Sein Mund war plötzlich staubtrocken.
Da bewegte sich die Gestalt, wandte sich offenbar um.
Jean stockte der Atem.
»Jean, bist du es?«
Jeans Herz machte einen Sprung, als er die Stimme seines Herrn erkannte.
»Oui, Monsieur, ich bin es. Bitte verzeiht, falls ich Euch geweckt habe.«
»Das hast du nicht.«
Wieder bewegte sich die Gestalt, wurde größer und zugleich konturloser. Offenbar kam der Hausherr seinem Diener einige Schritte entgegen.
»Ich wurde wach – nun, ich kann nicht sagen, weshalb. Irgendetwas trieb mich aus dem Bett. Doch wie es scheint, ist es dir genauso entgangen.«
Jean ließ die Türklinke los und setzte sich seinerseits in Bewegung.
»In der Tat, Monsieur. Etwas hat mich aus dem Schlaf gerissen. Ich versuche gerade erst, mir ein Bild zu verschaffen.«
»Geht mir genauso«, brummte sein Herr. Jean hörte das Rascheln von Seide und erriet, dass er sich den seidenen Morgenrock übergeworfen hatte.
Tastend streckte er die Hand aus, fühlte den glatten Stoff und spürte, wie ihm ein Stein vom Herzen fiel.
Wenn sein Herr bei ihm war, konnte es nicht so schlimm werden. Gemeinsam hatten sie jede Gefahr überwunden, da würde, sie auch diesmal alles zum Guten wenden.
Oder etwa nicht?
»Weshalb habt Ihr aus dem Fenster gesehen, Monsieur?«
Jean sah seinen Herrn von der Seite an. Im Mondlicht war das Gesicht deutlich zu sehen, jede kleine Falte um die Augen, die Jean so oft voller Güte anschauten.
In der Tat ging der Blick seines Herrn auf das Gebäude dort unten.
»Siehst du, was ich sehe?«
Jean zog die Nase kraus.
»Natürlich, Monsieur. Das dort unten ist der Pferdestall.«
Wenn sie auch erst seit wenigen Wochen hier lebten – das hätte nun wirklich jedes Kind gewusst! Jean fragte sich, ob sein Herr ihn neuerdings für beschränkt hielt oder ob er wohl selbst noch zu verschlafen war, um …
»Das meine ich nicht. Schau genau hin!«
Jean sah hinunter auf das Stallgebäude, beugte sich vor, um genauer hinsehen zu können.
Täuschte er sich oder war da tatsächlich eine Bewegung hinter dem Stallfenster auszumachen?
»Du siehst es auch, nicht wahr?«
Die Stimme seines Herrn war dicht an seinem Ohr, und er atmete jenen charakteristischen Duft von Männerschweiß, Lavendelöl und Tabak.
Beklommen nickte er, während er hinunterstarrte.
Der Pferdestall von Manoir Le Dragon – derzeit beherbergte er kaum ein halbes Dutzend Insassen, eben jene fünf Pferde, die sie aus dem Krieg in Deutschland mitgebracht hatten: neben Maître Renard die beiden Wallache aus Zweibrücker Zucht, die je nach Bedarf als Reitpferde oder vor dem Wagen dienten, dazu der dicke Schimmel, ein schwerer Kaltblüter aus der Perche, und Jeans kleine Feline. Die zierliche Stute brachte einiges an Temperament mit, und momentan noch etwas mehr.
Plötzlich hatte Jean eine bange Ahnung im Herzen.
»Feline!«
Er spürte, wie seine Kehle eng wurde.
Anfang des Jahres war es zu einer denkwürdigen Situation gekommen. Während des Feldzugs war das gewesen, als sie in einem Dorf einquartiert waren, mitten im tiefsten Winter. Draußen türmte sich der Schnee fast kniehoch. Die Dragoner lagen zu sechst in einer Kammer, die Pferde standen in der Scheune eines Bauern an einer langen Leine angebunden – und dann, ausgerechnet dann, war Feline rossig geworden, hatte geblinkt, war den anderen Pferden geradezu vor der Nase herumgetanzt.
Am Morgen hatten sie Maître Renard gefunden, wie er sich an einem Heuhaufen labte. Der Hengst hatte sich in der Nacht losgerissen, und offenbar hatte er noch andere Gelüste befriedigt als nur den Drang nach Futter. Jean hatte es nicht bemerkt, denn Feline war monatelang nichts anzusehen gewesen, und danach hatte er sie wochenlang nicht gesehen, als er in Versailles weilte. Dann aber, eines schönen Tages im Spätherbst, hatte er es gespürt, während er die Stute striegelte.
Etwas bewegte sich in ihrem Bauch, eindeutig!
Sein Herr klärte ihn später auf.
»Deine kleine Feline ist gravid. Sie trägt ein Fohlen. Maître ist offenbar seiner Natur gefolgt, damals im Februar, und hat seine Pflicht als Hengst getan. Nun müssen wir abwarten, was daraus wird.«
Da stand Jean nun also und starrte auf den Pferdestall, der im silbernen Licht des Mondes vor ihm lag.
Keine vier Wochen mehr und seine kleine Feline würde ein Fohlen zur Welt bringen. Und heute, ausgerechnet in dieser Nacht, war jemand dort unten bei ihr und den anderen Pferden.
Da, wieder bewegte sich etwas hinter dem Stallfenster!
Er fühlte, wie die Angst mit kalten Händen nach ihm griff.
»Wir müssen etwas tun, Monsieur!«
Wild gestikulierend deutete Jean aus dem Fenster.
»Da unten ist etwas im Gange. Gott allein weiß, was den Pferden da gerade begegnet …«
»Ich gebe dir recht«, erwiderte sein Herr ruhig. »Doch wir sollten ein paar Vorkehrungen treffen. Ich brauche zumindest eine Hose und passendes Schuhwerk, und du solltest zusehen, dass du eine Laterne mit hinunternimmst. Hast du eine in deiner Kammer?«
Jean nickte.
»Oui, Monsieur.«
»Dann hole sie und triff mich hier wieder.«
Jean brauchte keine Minute, um die Kerze in der Laterne zu entzünden. Sein Herr benötigte etwas länger, um in Hose und Rock zu kommen. Erleichtert bemerkte Jean, dass er außerdem seinen Degen bei sich hatte.
So leise wie möglich stiegen sie die Treppe hinunter und wandten sich zur Tür, die in den Hof hinausführte.
Jean fühlte, wie sein Herz einen Trommelwirbel schlug.
Er holte tief Luft, zog den Riegel beiseite und stieß die Tür auf. Sofort biss ihn die Kälte ins Gesicht. Der Geruch von Schnee lag in der Luft.
»Komm!«, raunte sein Herr ihm zu, schloss hinter ihnen die Tür und zog den Degen aus der Scheide.
Jean ging voraus und leuchtete ihm, wenn ihm auch ein wenig mulmig zumute war.
Wer mochte das sein dort im Stall? Räuber? Pferdediebe?
Am Weihnachtsmorgen?
Oder war es am Ende möglich, dass es sich bei dem nächtlichen Besucher um etwas anderes handelte?
Ihm fielen Geschichten ein, wie die Weiber sie erzählten, von Hexen und wilden Reitern, die während der Raunächte durch die Lüfte fegten.
Er fröstelte, und nicht von der Kälte.
Was erwartete sie dort im Stall?
Mit klopfendem Herzen näherte Jean sich der Stalltür. Dahinter waren leise Geräusche zu hören, aufgeregtes Schnauben, das Scharren von Hufen – und dann war auf einmal wieder eine Bewegung hinter dem Fenster zu sehen, nur schemenhaft, als wischte dort etwas vorbei. Jean glaubte den wirren Haarschopf einer Hexe zu erkennen.
Erschrocken prallte er zurück.
»Nur Mut!«, tönte es von hinten, aber Jean schlug das Herz bis zum Hals.
»Monsieur, ich … Bitte …«
»Schon gut.«
Eine Hand schob ihn beiseite. Mit erhobenem Degen trat der Hausherr auf die Stalltür zu, fasste mit der freien Linken nach der Klinke.
Jean hob die Laterne und hielt den Atem an.
Vorsichtig öffnete sein Herr die Tür.
»Licht!«
Jean hob die Laterne und trat vor.
Der flackernde Schein beleuchtete die Stallgasse, einen Haufen Stroh, ein paar Geräte an der Wand. Plötzlich blitzte etwas auf, spiegelte die Flamme und warf sie zurück, etwas Dunkles, Glänzendes, so groß wie Jeans Daumen.
Im ersten Moment zuckte er zurück.
Da lachte sein Herr erleichtert auf.
»Maître, du alter Schlingel! Musst du uns einen solchen Schrecken einjagen, ausgerechnet am Weihnachtsmorgen?«
Nun erkannte Jean ebenfalls, was da im Stall vor sich ging, und schämte sich zugleich für seine Furchtsamkeit. Was war er doch für ein Hasenfuß!
Ein schöner Held bist du mir, dachte er grimmig. Jean Gernegroß mit seinen vielen Abenteuern!
Da stand er nun und glotzte auf das Bild, das sich ihnen bot.
Neben dem Stallfenster stand Maître Renard. Irgendwie war es dem Hengst offenbar gelungen, die Verriegelung seines Verschlags zu öffnen. Nun dämmerte Jean auch, was sie da am Fenster gesehen hatten: Nicht etwa wildes Hexenhaar war es gewesen, sondern eine fuchsrote Pferdemähne.
Der Hengst warf den Kopf hoch und schnaubte erregt.
Lachend steckte sein Besitzer den Degen zurück in die Scheide.
»Nur ruhig, mein Bester!«, meinte er und nahm den Hengst beim Halfter. »Bist ausgerissen, wie? Na komm, zurück ins Körbchen! Und dann wüsste ich noch gern den Grund für deinen Freiheitsdrang.«
Eine gute Frage, fand Jean.
Keines der Pferde war bislang ausgerückt, auch Maître nicht. Weshalb also gerade heute?
Jean hob die Laterne. Alles sah aus wie immer. In der Ecke stand die Haferkiste, die der Hengst – dem schweren Deckel sei Dank – nicht hatte öffnen können, daneben zwei leere Eimer. Auf einem Bord an der Wand lagen mehrere Bürsten, ein eiserner Striegel und ein Hufräumer. Aus den Verschlägen blickten ihm überall dunkle Pferdeaugen entgegen, von der linken Seite der dicke Schimmel, rechts die beiden Zweibrücker und im vordersten Verschlag gleich neben dem Stallfenster …
Jean zuckte zusammen, als ihm endlich klar wurde, was hier nicht stimmte.
Der vorderste Verschlag war der größte. Hier hatten sie vor zwei Tagen Feline einquartiert. Zum Abfohlen war es der beste Ort, und sie sollte sich beizeiten daran gewöhnen.
Wann immer Jean in diesen zwei Tagen die Pferde im Stall besucht hatte – Feline hatte ihm den Kopf über die Trennwand entgegengestreckt und nach einer gelben Rübe gebettelt.
Heute aber reckte sich dort kein samtweiches Pferdemaul. Kein Pferdekopf war über der Trennwand zu sehen.
Jeans Hals war auf einmal wie zugeschnürt.
Feline!
Um Himmels willen –
Mit bebendem Herzen trat er näher und spähte über die Trennwand.
Im flackernden Kerzenschein sah er Feline im Stroh liegen, auf der Seite, die Beine lang ausgestreckt. Der Schreck fuhr ihm in die Glieder, und er hätte um ein Haar die Laterne fallen lassen. Ein Schreckensruf entfuhr ihm. Sein Herr, der soeben den Riegel an Maître Renards Verschlag schloss, sah auf.
»Was ist los?«
Stumm deutete Jean auf die kleine Stute. Schwer atmend lag sie da. Endlich hob sie den Kopf und sah Jean an.
Gottlob, sie lebte noch und schien sich auch ein wenig zu erholen, schnaubte leise, dann kräftiger, schüttelte schließlich den Kopf, als wollte sie das alles nicht glauben.
»Seht nur, Monsieur, sie ist krank!«
Sein Herr stieß einen belustigten Schnaufer aus.
»Das denke ich nicht. Sieh mal genau hin.«
Jean hob die Laterne noch ein wenig höher.
Da raschelte es im Stroh hinter Felines kräftigem Hinterschenkel. Etwas bewegte sich dort, etwas Großes.
Vor Überraschung riss Jean die Augen auf.
Ein Quietschen drang aus der Ecke, der missglückte Versuch eines allerersten kleinen Wieherns.
Feline riss den Kopf herum und starrte auf das Ding, als sei sie selbst überrascht, plötzlich nicht mehr allein in dem Verschlag zu sein.
Jean spürte, wie sein Herr neben ihn trat.
»Es ist da!«, flüsterte er. »Feline hat ihr Fohlen bekommen.«
»Das hat sie«, erwiderte sein Herr. »Und ganz allein hat sie es geschafft, im Schutz der Nacht, wie es sich für eine gesunde Mutterstute gehört. Jetzt wissen wir auch, weshalb Maître so unruhig war.«
Leise öffnete er den Riegel und schob sich in den Verschlag. Feline warf ihm einen wachsamen Blick zu, doch er redete beruhigend auf sie ein, bewegte sich langsam auf sie zu und kraulte sie hinter dem Ohr. Geduckt arbeitete er sich weiter vor bis zu dem winzigen Pferdekörper, der da nass und mit verklebten Augen im Stroh lag. Mit geübten Händen fuhr er unter das neugeborene Pferdekind, säuberte ihm mit einem Strohwisch Nüstern und Maul und hob ihm das kurze Schweiflein für einen raschen Blick auf die Hinterpartie.
»Ein kleines Stütchen.«
Er hob den Kopf, sah Jean in der geöffneten Tür des Verschlags stehen, bemerkte seinen faszinierten Blick und lächelte.
»Stell die Laterne auf den Boden und komm her. Aber langsam!«
Vorsichtig näherte Jean sich dem kleinen Wunder, das da im Stall geschehen war.
»Deine erste Fohlengeburt?«
Jean nickte stumm.
Eine Weile saßen sie schweigend im Stroh, sahen zu, wie Feline ihr Kind trockenleckte und ihm einen kräftigen Stups mit dem Maul verpasste. Als die Stute aufstand, riss die Nabelschnur. Jean blickte auf das seltsame dunkle Gebilde, dass seiner kleinen Freundin aus dem Hintern heraushing.
»Die Nachgeburt wird bald abgehen«, meinte sein Herr. »Deine Stute macht das ganz hervorragend. Schau, wie sie das Kleine zum Aufstehen animiert! Bald wird es seine erste Muttermilch trinken.«
»Es ist vier Wochen zu früh!«, warf Jean besorgt ein. »Ist es nicht viel zu klein für ein normales Fohlen?«
»Ein wenig vielleicht«, gab sein Herr zu. »Doch es sieht alles gut aus. Und der Herrgott wird wissen, weshalb er dieses kleine Wesen gerade heute in die Welt entlässt.«
Tatsächlich versuchte das Fohlen aufzustehen, hatte jedoch Mühe, seine langen Beine zu sortieren und stocherte hilflos damit im Stroh herum.
Gott weiß ganz bestimmt, weshalb es gerade heute zu uns gekommen ist, dachte Jean.
»Weil heute Weihnachten ist.«
Er wandte den Kopf.
»Christ ist geboren, Monsieur. Friede auf Erden, für alle Menschen – und für jene, die uns nahestehen.«
Sein Herr lächelte.
»Das hast du schön gesagt.«
Wieder blickte Jean auf das Fohlen. Zweimal war es bereits umgefallen. Nun stemmte es sich erneut hoch, schwankte gefährlich – doch es blieb stehen, die Hinterhand gegen die Bretterwand des Verschlags gelehnt.
Sanft schob Feline es mit dem Kopf voran zwischen ihre Hinterschenkel.
»Hast du schon einen Namen für unseren neuen Erdenbewohner ausgesucht?«, fragte sein Herr leise.
Jean musste keine Sekunde überlegen.
»Es ist Weihnachten, Monsieur, da kann es nur einen Namen geben.«
Sein Herr hob gespannt die Brauen.
»Nun?«
Jean lächelte und schaute auf das Fohlen, das inzwischen das Euter der Mutter gefunden hatte und gierig zu saugen begann.
»Noelle«, sagte er leise.
Draußen tschilpte ein Vogel, zwitscherte vorsichtig und begann schließlich zu singen.
Noch zwei Stunden bis Sonnenaufgang.
Freut euch, ihr alle, Mensch und Tier – und Frieden für die Welt!
von Karola Briese
Jeans außergewöhnliche Weihnacht
Als Jean erwachte, war es noch dunkel. Blinzelnd öffnete er die Augen, aber alles, was er sah, war ein blasser Streifen Mondlicht, der durch den Spalt zwischen den Fensterläden in seine Schlafkammer drang.
Er schniefte leise. An seiner Nase hing ein Tropfen, er spürte es, doch er hütete sich, die Hand auszustrecken und ihn abzuwischen. Lieber alles unter der Bettdecke halten, so lange es ging, das wärmte wenigstens ein bisschen.
Mit einem wohligen Seufzer zog er sich die Decke über die Nase.
Im Bett war es doch viel gemütlicher. Außerdem hatte er am Abend ein wenig Wein trinken dürfen. Es war ein besonderer Anlass gewesen. Zum ersten Mal begingen sie jenen Abend im neuen Heim seines Herrn, den Abend vor …
Da stockte ihm der Atem, als ihm bewusst wurde, welcher Tag heute war.
Mit einem Schlag war er hellwach.
Von einem Augenblick zum anderen saß er aufrecht im Bett und tastete wild auf dem Nachttisch herum. Die kalte Luft scherte ihn auf einmal gar nicht mehr. Himmel noch eins, wie hatte er es aber auch vergessen können, ausgerechnet hier, ausgerechnet heute!
Endlich fand seine Hand, was er suchte, die Uhr, die ihm sein Herr vor einigen Wochen geschenkt hatte. Es war eine besondere Uhr, die in ihrem Innern ein Schlagwerk nebst einer kleinen Glocke verbarg. Mit einem Hebel konnte man einstellen, wann die Glocke schlagen sollte. So konnte man sich von dem Apparat wecken lassen – eine feine Sache, wenn man morgens als erster auf den Beinen sein musste.
Jean hob die Uhr vor die Augen, doch es war zu dunkel, um das Zifferblatt und die Zeiger zu erkennen. Seufzend schälte er sich aus den Decken, tappte zum Fenster und hielt die Uhr in den schmalen Streifen Mondlicht.
Fast halb drei. Noch mitten in der Nacht, oder besser, ganz früh am Morgen.
Er lächelte im Dunkeln.
Ein besonderer Morgen, noch vor Anbruch eines ganz besonderen Tages.
Vorsichtig stellte er die Uhr zurück.
Dies war der Weihnachtsmorgen, der Morgen nach der Heiligen Nacht. Heute war der Tag, an dem die gesamte Christenheit sich aufmachte, die Geburt des Erlösers zu feiern.
Jean fühlte, wie ihm leicht ums Herz wurde.
So viel Leid hatten sie durchlitten, sein Herr und er, so viel Krieg, so viel Tod. Aber all das lag nun hinter ihnen. Nun waren sie hier, im Herrenhaus von Manoir le Dragon, dem neuen Wohnsitz seines Herrn.
Es drängte ihn, wieder unter die warmen Decken zu kriechen. Doch er war neugierig geworden.
Was hatte dieser Morgen an sich, dass er vor der Zeit erwachte?
Jean öffnete zuerst das Fenster und danach die Läden. Draußen stand der fast volle Mond am Himmel. Das würde ihm genügend Licht geben für die nächsten Handgriffe.
Schnell schloss er das Fenster und tappte auf Strümpfen zum Ofen hinüber.
Wie erwartet war noch Glut darin. Geschickt entfachte er mithilfe von Kienspänen und Blasebalg eine kleine Flamme. Bald brannte ein munteres kleines Feuer. Jean ließ die Ofenklappe offen, um sich im Licht des Feuerscheins anzukleiden.
Während er sich die Strumpfbänder band, kehrte er in Gedanken zu der Frage zurück, was ihn aus dem Schlaf gerissen hatte. Er lauschte angestrengt, doch es war totenstill im Haus und auch von draußen drang kein Laut herein.
Jean griff nach seiner Hose.
Was zum Henker hatte ihn geweckt?
Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis er alle Knöpfe an seiner Hose geschlossen hatte, im Halbdunkel und mit klammen Fingern. Aber was half es? Nicht nur, dass er sich kein liederliches Erscheinungsbild erlauben konnte – wer wusste schon, was der noch junge Tag bereithielt?
Womöglich ein neues Abenteuer für ihn und seinen Herrn?
Er zog sich die Weste über.
Ein neues Abenteuer – weshalb eigentlich nicht?
Früher waren sie geradezu von einem Abenteuer ins nächste geschliddert. Früher, als sein Herr noch bei den Dragonern war und Jean sein Offiziersbursche. Wohl ein Dutzend Mal waren sie dem Tod nur knapp entronnen, hatten einander das Leben gerettet, zu Land, zu Wasser und sogar in der Luft.
Mit Schaudern dachte er an ihr jüngstes Abenteuer.
Für seinen Herrn wäre es beinahe das letzte gewesen. Schwer verletzt hatte Jean ihn zurückgelassen, war allein in die Nacht hinausgeritten, um ein anderes Leben zu retten. Nur Maître Renard war bei ihm gewesen, der fuchsrote Hengst seines Herrn, ein Pferd mit so viel Feuer, dass es für zehn gereicht hätte.
Maître Renard …
Sein Blick ging zum Fenster.
Am schwarzblauen Winterhimmel standen die Sterne, dazwischen der fast volle Mond, der allmählich dem Horizont zustrebte. Sehr groß war er. Kein Wunder, dass Jean in seinem Licht die meisten Einzelheiten in seiner Schlafkammer erkennen konnte: das Bett mit dem Kruzifix darüber, die Kommode, die früher in der Stube seines Herrn in der Rue du Vicomte gestanden hatte und nun Jeans Sachen beherbergte, den Haken an der Wand, an dem auf einem Kleiderbügel der passende Rock zu Jeans graublauem Anzug hing.
Rasch trat er hinzu, nahm das gute Stück herunter und schlüpfte hinein.
Anfangs war es ein ungewohntes Gefühl gewesen. Während seiner Zeit als Offiziersbursche hatte Jean nur eine Ärmelweste getragen, die vorne geschlossen wurde und eng am Körper saß. Ein langer Rock mit weiten Schößen, die ihm fast bis auf die Knie reichten – das das wäre für seine Arbeit als Bursche nur hinderlich gewesen. Wie hätte er damit den Stall ausmisten sollen, die Pferde striegeln, das Zimmer seines Herrn putzen, den Kamin säubern, das Feuer in Gang halten und all die anderen täglichen Pflichten?
Damit war es nun vorbei. Keinen Stall brauchte er mehr auszumisten, kein Sattelzeug zu putzen und keinen Fußboden zu schrubben. Das taten nun andere, und er, Jean, brauchte nur noch darauf zu achten, dass alles seine Ordnung hatte.
Er zupfte sich die Ärmel zurecht und strich die Fronten des Rocks glatt.
Also dann!
Er ging zur Tür und fasste nach der Klinke.
Nur Sekunden später stand er draußen auf dem Gang.
Sofort schalt er sich einen Esel. Weshalb hatte er nicht daran gedacht, ein Licht mitzunehmen? Auf dem Flur war es so dunkel wie in einem Grab. Oder wie im Bauch eines Walfisches. Er dachte daran, wie er einmal mit seinem Herrn über die Geschichte von Jonah gesprochen hatte.
Oder nein, nicht Jonah. Sein Herr hatte den Heiligen Tobias zitiert. Von einem großen Fisch aber war trotzdem die Rede gewesen, ein Fisch, der Tobias verschlingen wollte, so wie die Dunkelheit hier auf dem Gang Jean zu verschlucken drohte.
Er wandte den Blick zum Fenster am Ende des Ganges – und erstarrte.
Das Fenster war recht klein, nicht größer als das in seiner Schlafkammer. Im Gegensatz zu jenem aber hatte dieses hier keine Fensterläden, und der Blick ging ungehindert auf den dunklen Nachthimmel hinaus.
Davor stand eine schwarze Gestalt, nicht mehr als eine Silhouette im silbernen Mondlicht.
Jean fühlte, wie ihm ein Schauer über den Rücken fuhr.
Geschichten von Gespenstern fielen ihm ein, von Geistern, die die Lebenden nachts heimsuchten. Fieberhaft überlegte er. Die Köchin hatte ihm eine Menge über das Haus erzählt und über die Menschen, die hier gelebt hatten.
Ob wohl einer von ihnen geblieben war, bis über den Tod hinaus?
Er schluckte.
Mit schreckgeweiteten Augen starrte er auf die Silhouette am Fenster.
Da schoss ihm plötzlich ein Gedanke durch den Kopf.
»Gespenster gibt es nicht«, hatte sein Herr einmal gesagt. Für alles gab es eine logische Erklärung. Wenn also die Gestalt dort vorn am Fenster kein Geist war, musste sie ein Mensch aus Fleisch und Blut sein. Und da die Bewohner des Hauses um diese Zeit friedlich zu schlafen pflegten, bedeutete es, dass er es mit einem Eindringling zu tun hatte.
Er spürte, wie sein Nacken zu kribbeln begann.
Im selben Moment wurde ihm bewusst, dass er mit dem Fremden allein auf dem dunklen Flur war, allein, ohne Licht – und ohne Waffe.
Sein Mund war plötzlich staubtrocken.
Da bewegte sich die Gestalt, wandte sich offenbar um.
Jean stockte der Atem.
»Jean, bist du es?«
Jeans Herz machte einen Sprung, als er die Stimme seines Herrn erkannte.
»Oui, Monsieur, ich bin es. Bitte verzeiht, falls ich Euch geweckt habe.«
»Das hast du nicht.«
Wieder bewegte sich die Gestalt, wurde größer und zugleich konturloser. Offenbar kam der Hausherr seinem Diener einige Schritte entgegen.
»Ich wurde wach – nun, ich kann nicht sagen, weshalb. Irgendetwas trieb mich aus dem Bett. Doch wie es scheint, ist es dir genauso entgangen.«
Jean ließ die Türklinke los und setzte sich seinerseits in Bewegung.
»In der Tat, Monsieur. Etwas hat mich aus dem Schlaf gerissen. Ich versuche gerade erst, mir ein Bild zu verschaffen.«
»Geht mir genauso«, brummte sein Herr. Jean hörte das Rascheln von Seide und erriet, dass er sich den seidenen Morgenrock übergeworfen hatte.
Tastend streckte er die Hand aus, fühlte den glatten Stoff und spürte, wie ihm ein Stein vom Herzen fiel.
Wenn sein Herr bei ihm war, konnte es nicht so schlimm werden. Gemeinsam hatten sie jede Gefahr überwunden, da würde, sie auch diesmal alles zum Guten wenden.
Oder etwa nicht?
»Weshalb habt Ihr aus dem Fenster gesehen, Monsieur?«
Jean sah seinen Herrn von der Seite an. Im Mondlicht war das Gesicht deutlich zu sehen, jede kleine Falte um die Augen, die Jean so oft voller Güte anschauten.
In der Tat ging der Blick seines Herrn auf das Gebäude dort unten.
»Siehst du, was ich sehe?«
Jean zog die Nase kraus.
»Natürlich, Monsieur. Das dort unten ist der Pferdestall.«
Wenn sie auch erst seit wenigen Wochen hier lebten – das hätte nun wirklich jedes Kind gewusst! Jean fragte sich, ob sein Herr ihn neuerdings für beschränkt hielt oder ob er wohl selbst noch zu verschlafen war, um …
»Das meine ich nicht. Schau genau hin!«
Jean sah hinunter auf das Stallgebäude, beugte sich vor, um genauer hinsehen zu können.
Täuschte er sich oder war da tatsächlich eine Bewegung hinter dem Stallfenster auszumachen?
»Du siehst es auch, nicht wahr?«
Die Stimme seines Herrn war dicht an seinem Ohr, und er atmete jenen charakteristischen Duft von Männerschweiß, Lavendelöl und Tabak.
Beklommen nickte er, während er hinunterstarrte.
Der Pferdestall von Manoir Le Dragon – derzeit beherbergte er kaum ein halbes Dutzend Insassen, eben jene fünf Pferde, die sie aus dem Krieg in Deutschland mitgebracht hatten: neben Maître Renard die beiden Wallache aus Zweibrücker Zucht, die je nach Bedarf als Reitpferde oder vor dem Wagen dienten, dazu der dicke Schimmel, ein schwerer Kaltblüter aus der Perche, und Jeans kleine Feline. Die zierliche Stute brachte einiges an Temperament mit, und momentan noch etwas mehr.
Plötzlich hatte Jean eine bange Ahnung im Herzen.
»Feline!«
Er spürte, wie seine Kehle eng wurde.
Anfang des Jahres war es zu einer denkwürdigen Situation gekommen. Während des Feldzugs war das gewesen, als sie in einem Dorf einquartiert waren, mitten im tiefsten Winter. Draußen türmte sich der Schnee fast kniehoch. Die Dragoner lagen zu sechst in einer Kammer, die Pferde standen in der Scheune eines Bauern an einer langen Leine angebunden – und dann, ausgerechnet dann, war Feline rossig geworden, hatte geblinkt, war den anderen Pferden geradezu vor der Nase herumgetanzt.
Am Morgen hatten sie Maître Renard gefunden, wie er sich an einem Heuhaufen labte. Der Hengst hatte sich in der Nacht losgerissen, und offenbar hatte er noch andere Gelüste befriedigt als nur den Drang nach Futter. Jean hatte es nicht bemerkt, denn Feline war monatelang nichts anzusehen gewesen, und danach hatte er sie wochenlang nicht gesehen, als er in Versailles weilte. Dann aber, eines schönen Tages im Spätherbst, hatte er es gespürt, während er die Stute striegelte.
Etwas bewegte sich in ihrem Bauch, eindeutig!
Sein Herr klärte ihn später auf.
»Deine kleine Feline ist gravid. Sie trägt ein Fohlen. Maître ist offenbar seiner Natur gefolgt, damals im Februar, und hat seine Pflicht als Hengst getan. Nun müssen wir abwarten, was daraus wird.«
Da stand Jean nun also und starrte auf den Pferdestall, der im silbernen Licht des Mondes vor ihm lag.
Keine vier Wochen mehr und seine kleine Feline würde ein Fohlen zur Welt bringen. Und heute, ausgerechnet in dieser Nacht, war jemand dort unten bei ihr und den anderen Pferden.
Da, wieder bewegte sich etwas hinter dem Stallfenster!
Er fühlte, wie die Angst mit kalten Händen nach ihm griff.
»Wir müssen etwas tun, Monsieur!«
Wild gestikulierend deutete Jean aus dem Fenster.
»Da unten ist etwas im Gange. Gott allein weiß, was den Pferden da gerade begegnet …«
»Ich gebe dir recht«, erwiderte sein Herr ruhig. »Doch wir sollten ein paar Vorkehrungen treffen. Ich brauche zumindest eine Hose und passendes Schuhwerk, und du solltest zusehen, dass du eine Laterne mit hinunternimmst. Hast du eine in deiner Kammer?«
Jean nickte.
»Oui, Monsieur.«
»Dann hole sie und triff mich hier wieder.«
Jean brauchte keine Minute, um die Kerze in der Laterne zu entzünden. Sein Herr benötigte etwas länger, um in Hose und Rock zu kommen. Erleichtert bemerkte Jean, dass er außerdem seinen Degen bei sich hatte.
So leise wie möglich stiegen sie die Treppe hinunter und wandten sich zur Tür, die in den Hof hinausführte.
Jean fühlte, wie sein Herz einen Trommelwirbel schlug.
Er holte tief Luft, zog den Riegel beiseite und stieß die Tür auf. Sofort biss ihn die Kälte ins Gesicht. Der Geruch von Schnee lag in der Luft.
»Komm!«, raunte sein Herr ihm zu, schloss hinter ihnen die Tür und zog den Degen aus der Scheide.
Jean ging voraus und leuchtete ihm, wenn ihm auch ein wenig mulmig zumute war.
Wer mochte das sein dort im Stall? Räuber? Pferdediebe?
Am Weihnachtsmorgen?
Oder war es am Ende möglich, dass es sich bei dem nächtlichen Besucher um etwas anderes handelte?
Ihm fielen Geschichten ein, wie die Weiber sie erzählten, von Hexen und wilden Reitern, die während der Raunächte durch die Lüfte fegten.
Er fröstelte, und nicht von der Kälte.
Was erwartete sie dort im Stall?
Mit klopfendem Herzen näherte Jean sich der Stalltür. Dahinter waren leise Geräusche zu hören, aufgeregtes Schnauben, das Scharren von Hufen – und dann war auf einmal wieder eine Bewegung hinter dem Fenster zu sehen, nur schemenhaft, als wischte dort etwas vorbei. Jean glaubte den wirren Haarschopf einer Hexe zu erkennen.
Erschrocken prallte er zurück.
»Nur Mut!«, tönte es von hinten, aber Jean schlug das Herz bis zum Hals.
»Monsieur, ich … Bitte …«
»Schon gut.«
Eine Hand schob ihn beiseite. Mit erhobenem Degen trat der Hausherr auf die Stalltür zu, fasste mit der freien Linken nach der Klinke.
Jean hob die Laterne und hielt den Atem an.
Vorsichtig öffnete sein Herr die Tür.
»Licht!«
Jean hob die Laterne und trat vor.
Der flackernde Schein beleuchtete die Stallgasse, einen Haufen Stroh, ein paar Geräte an der Wand. Plötzlich blitzte etwas auf, spiegelte die Flamme und warf sie zurück, etwas Dunkles, Glänzendes, so groß wie Jeans Daumen.
Im ersten Moment zuckte er zurück.
Da lachte sein Herr erleichtert auf.
»Maître, du alter Schlingel! Musst du uns einen solchen Schrecken einjagen, ausgerechnet am Weihnachtsmorgen?«
Nun erkannte Jean ebenfalls, was da im Stall vor sich ging, und schämte sich zugleich für seine Furchtsamkeit. Was war er doch für ein Hasenfuß!
Ein schöner Held bist du mir, dachte er grimmig. Jean Gernegroß mit seinen vielen Abenteuern!
Da stand er nun und glotzte auf das Bild, das sich ihnen bot.
Neben dem Stallfenster stand Maître Renard. Irgendwie war es dem Hengst offenbar gelungen, die Verriegelung seines Verschlags zu öffnen. Nun dämmerte Jean auch, was sie da am Fenster gesehen hatten: Nicht etwa wildes Hexenhaar war es gewesen, sondern eine fuchsrote Pferdemähne.
Der Hengst warf den Kopf hoch und schnaubte erregt.
Lachend steckte sein Besitzer den Degen zurück in die Scheide.
»Nur ruhig, mein Bester!«, meinte er und nahm den Hengst beim Halfter. »Bist ausgerissen, wie? Na komm, zurück ins Körbchen! Und dann wüsste ich noch gern den Grund für deinen Freiheitsdrang.«
Eine gute Frage, fand Jean.
Keines der Pferde war bislang ausgerückt, auch Maître nicht. Weshalb also gerade heute?
Jean hob die Laterne. Alles sah aus wie immer. In der Ecke stand die Haferkiste, die der Hengst – dem schweren Deckel sei Dank – nicht hatte öffnen können, daneben zwei leere Eimer. Auf einem Bord an der Wand lagen mehrere Bürsten, ein eiserner Striegel und ein Hufräumer. Aus den Verschlägen blickten ihm überall dunkle Pferdeaugen entgegen, von der linken Seite der dicke Schimmel, rechts die beiden Zweibrücker und im vordersten Verschlag gleich neben dem Stallfenster …
Jean zuckte zusammen, als ihm endlich klar wurde, was hier nicht stimmte.
Der vorderste Verschlag war der größte. Hier hatten sie vor zwei Tagen Feline einquartiert. Zum Abfohlen war es der beste Ort, und sie sollte sich beizeiten daran gewöhnen.
Wann immer Jean in diesen zwei Tagen die Pferde im Stall besucht hatte – Feline hatte ihm den Kopf über die Trennwand entgegengestreckt und nach einer gelben Rübe gebettelt.
Heute aber reckte sich dort kein samtweiches Pferdemaul. Kein Pferdekopf war über der Trennwand zu sehen.
Jeans Hals war auf einmal wie zugeschnürt.
Feline!
Um Himmels willen –
Mit bebendem Herzen trat er näher und spähte über die Trennwand.
Im flackernden Kerzenschein sah er Feline im Stroh liegen, auf der Seite, die Beine lang ausgestreckt. Der Schreck fuhr ihm in die Glieder, und er hätte um ein Haar die Laterne fallen lassen. Ein Schreckensruf entfuhr ihm. Sein Herr, der soeben den Riegel an Maître Renards Verschlag schloss, sah auf.
»Was ist los?«
Stumm deutete Jean auf die kleine Stute. Schwer atmend lag sie da. Endlich hob sie den Kopf und sah Jean an.
Gottlob, sie lebte noch und schien sich auch ein wenig zu erholen, schnaubte leise, dann kräftiger, schüttelte schließlich den Kopf, als wollte sie das alles nicht glauben.
»Seht nur, Monsieur, sie ist krank!«
Sein Herr stieß einen belustigten Schnaufer aus.
»Das denke ich nicht. Sieh mal genau hin.«
Jean hob die Laterne noch ein wenig höher.
Da raschelte es im Stroh hinter Felines kräftigem Hinterschenkel. Etwas bewegte sich dort, etwas Großes.
Vor Überraschung riss Jean die Augen auf.
Ein Quietschen drang aus der Ecke, der missglückte Versuch eines allerersten kleinen Wieherns.
Feline riss den Kopf herum und starrte auf das Ding, als sei sie selbst überrascht, plötzlich nicht mehr allein in dem Verschlag zu sein.
Jean spürte, wie sein Herr neben ihn trat.
»Es ist da!«, flüsterte er. »Feline hat ihr Fohlen bekommen.«
»Das hat sie«, erwiderte sein Herr. »Und ganz allein hat sie es geschafft, im Schutz der Nacht, wie es sich für eine gesunde Mutterstute gehört. Jetzt wissen wir auch, weshalb Maître so unruhig war.«
Leise öffnete er den Riegel und schob sich in den Verschlag. Feline warf ihm einen wachsamen Blick zu, doch er redete beruhigend auf sie ein, bewegte sich langsam auf sie zu und kraulte sie hinter dem Ohr. Geduckt arbeitete er sich weiter vor bis zu dem winzigen Pferdekörper, der da nass und mit verklebten Augen im Stroh lag. Mit geübten Händen fuhr er unter das neugeborene Pferdekind, säuberte ihm mit einem Strohwisch Nüstern und Maul und hob ihm das kurze Schweiflein für einen raschen Blick auf die Hinterpartie.
»Ein kleines Stütchen.«
Er hob den Kopf, sah Jean in der geöffneten Tür des Verschlags stehen, bemerkte seinen faszinierten Blick und lächelte.
»Stell die Laterne auf den Boden und komm her. Aber langsam!«
Vorsichtig näherte Jean sich dem kleinen Wunder, das da im Stall geschehen war.
»Deine erste Fohlengeburt?«
Jean nickte stumm.
Eine Weile saßen sie schweigend im Stroh, sahen zu, wie Feline ihr Kind trockenleckte und ihm einen kräftigen Stups mit dem Maul verpasste. Als die Stute aufstand, riss die Nabelschnur. Jean blickte auf das seltsame dunkle Gebilde, dass seiner kleinen Freundin aus dem Hintern heraushing.
»Die Nachgeburt wird bald abgehen«, meinte sein Herr. »Deine Stute macht das ganz hervorragend. Schau, wie sie das Kleine zum Aufstehen animiert! Bald wird es seine erste Muttermilch trinken.«
»Es ist vier Wochen zu früh!«, warf Jean besorgt ein. »Ist es nicht viel zu klein für ein normales Fohlen?«
»Ein wenig vielleicht«, gab sein Herr zu. »Doch es sieht alles gut aus. Und der Herrgott wird wissen, weshalb er dieses kleine Wesen gerade heute in die Welt entlässt.«
Tatsächlich versuchte das Fohlen aufzustehen, hatte jedoch Mühe, seine langen Beine zu sortieren und stocherte hilflos damit im Stroh herum.
Gott weiß ganz bestimmt, weshalb es gerade heute zu uns gekommen ist, dachte Jean.
»Weil heute Weihnachten ist.«
Er wandte den Kopf.
»Christ ist geboren, Monsieur. Friede auf Erden, für alle Menschen – und für jene, die uns nahestehen.«
Sein Herr lächelte.
»Das hast du schön gesagt.«
Wieder blickte Jean auf das Fohlen. Zweimal war es bereits umgefallen. Nun stemmte es sich erneut hoch, schwankte gefährlich – doch es blieb stehen, die Hinterhand gegen die Bretterwand des Verschlags gelehnt.
Sanft schob Feline es mit dem Kopf voran zwischen ihre Hinterschenkel.
»Hast du schon einen Namen für unseren neuen Erdenbewohner ausgesucht?«, fragte sein Herr leise.
Jean musste keine Sekunde überlegen.
»Es ist Weihnachten, Monsieur, da kann es nur einen Namen geben.«
Sein Herr hob gespannt die Brauen.
»Nun?«
Jean lächelte und schaute auf das Fohlen, das inzwischen das Euter der Mutter gefunden hatte und gierig zu saugen begann.
»Noelle«, sagte er leise.
Draußen tschilpte ein Vogel, zwitscherte vorsichtig und begann schließlich zu singen.
Noch zwei Stunden bis Sonnenaufgang.
Freut euch, ihr alle, Mensch und Tier – und Frieden für die Welt!
von Karola Briese